Im Sommersemester 2022 und 2024 fanden an der Alice Salomon Hochschule Berlin Praxisforschungsprojekte in Kooperation mit dem Projekt Organize – Für Mitbestimmung vor Ort statt. Die ein Semester dauernden und 8 Semesterwochenstunden umfassenden Veranstaltungen wurden von Prof. Dr. Marion Mayer (ASH) und Friederike Kawlath (Organize) durchgeführt. Die Studierenden erhoben - hauptsächlich qualitative - Forschungsdaten in den Kommunen Rheinsberg, Wittstock und Temnitz. Sie nahmen hierfür Kontakt zu Jugendeinrichtungen und Schulen auf und sprachen mit Kindern und Jugendlichen im Sozialraum. Hierbei nutzten sie unterschiedliche Erhebungsmetoden wie Gruppendiskussionen, Interviews, Fragebögen und Workshopformate. Die Fragestellungen orientierten sich an einem Erkenntnisinteresse zu den Zugängen der Kinder und Jugendlichen zu ihren (wahrgenommenen) Partizipationsmöglichkeiten.
Die Ergebnisse wurden in Semesterarbeiten festgehalten und stehen den Kommunen zur Verfügung. Außerdem finden sich die wichtigsten Ergebnisse im Monitoringbericht 2024. Hier finden Sie weitere Informationen zu den Praxisforschungsprojekten, den Forschungsdesigns und eine Zusammenfassung der Ergebnisse.
Von: Annabel Prause und Johanna Jacob Feuerborn, ASH Berlin, SoSe 2024
Zusammengefasst: Friederike Kawlath, Organize – Für Mitbestimmung vor Ort
Wahrnehmung von politischen Partizipationsmöglichkeiten bei Jugendlichen im ländlichen Raum: Eine qualitative Untersuchung
Wie nehmen Jugendliche ihre politischen Partizipationsmöglichkeiten in ihrer Kommune wahr?
Das Ziel dieser Studie ist es, ein tieferes Verständnis für die Wahrnehmung und Erfahrungen von Jugendlichen hinsichtlich ihrer politischen Partizipationsmöglichkeiten in der Kommune zu gewinnen. Es soll erforscht werden, wie Jugendliche ihre Beteiligung und Mitbestimmung erleben, welche Bedingungen für sie wichtig sind und welche Auswirkungen dies auf ihre Selbstbestimmung hat.
Gruppendiskussion (Fokusgruppe)
Die Diskussion basiert auf einem strukturierten Interviewleitfaden, der folgende Themen abdeckt:
Die Methode der Gruppendiskussion dient dazu, die Perspektiven und Meinungen von geschlossenen Gruppen, wie zum Beispiel älteren Kindern und Jugendlichen, in einem strukturierten, aber offenen Rahmen zu erfassen. Diese Diskussionen werden häufig in thematischen Fokusgruppen durchgeführt, wo die Teilnehmer*innen ihre Lebenswelt bewerten und Probleme in ihrem Umfeld aus ihrer Sicht darstellen. Dabei können auch laufende Projekte und Institutionen kritisch eingeschätzt werden, was sowohl ein Fremdbild als auch ein Selbstbild der Gruppe liefert.
Eine der zentralen Stärken dieser Methode ist der große Freiraum, den sie den Teilnehmenden bietet. Die offene Struktur ermöglicht eine umfassende Diskussion, bei der Einstellungen, Normen, Bedürfnisse sowie versteckte Konflikte und die Situation in der Kommune erfasst werden können.
Nach der Festlegung der Zielgruppe und der Kontaktaufnahme, werden der Termin und der Ort für das Gespräch bestimmt. Es ist oft hilfreich, die Diskussion in einem vertrauten Umfeld, wie einer bekannten Einrichtung, abzuhalten, da sich die Teilnehmer*innen dort wohler fühlen. Eine vorherige Besichtigung des Ortes ermöglicht eine bessere Planung der Mediennutzung und anderer logistischer Aspekte. Außerdem ist ein vorherigens Kennenlernen für eine spätere angenehme Atmosphäre zwischen Teilnehmer*innen und Forscher*innen hilfreich. Das Thema der Diskussion wird definiert, und die Teilnehmer*innen erhalten eine klare Information über die Ziele der Gruppendiskussion. Zur Unterstützung der Moderation wird ein Leitfaden erstellt.
Zu Beginn der Sitzung begrüßt die Moderation die Teilnehmer*innen und führt eine kurze Vorstellungsrunde durch. Die Moderation leitet dann das Gespräch ein, stellt das Thema vor und motiviert die Teilnehmer*innen, ihre Gedanken und Erfahrungen zu äußern. Die Diskussion sollte weitgehend offen geführt werden, Eingriffe der Moderation sind nur erforderlich, wenn das Gespräch ins Stocken gerät, vom Thema abweicht oder unsachlich wird. Fragen sollten gezielt und nur in Verbindung mit den bisherigen Beiträgen der Teilnehmer*innen gestellt werden, um deren Perspektiven besser nachzuvollziehen. Das Diskussionsthema wird deutlich sichtbar auf einer Moderationswand notiert, und relevante Punkte können auf Karten festgehalten und unter den passenden Überschriften angebracht.
Die Moderation sollte aufmerksam bleiben und bei Bedarf Impulse setzen, um die Diskussion zu fördern (vgl. Stange, 2008).
Die Fragen wurden vorab systematisch ausgewählt und sortiert. In der Reihenfolge wurde beachtet, dass die Fragen innerhalb der Themenblöcke zu Beginn konkreter formuliert sind und im Verlauf abstraktere Aspekte in den Blick nimmt. Innerhalb des Prozess wurden die Fragen aus einer adultismuskritischen Perspektive überprüft. Der Leitfaden dient zur Anregung des Erzählflusses sowie zur Strukturierung.
Die Audioaufnahmen werden transkribiert. Zusätzlich werden im Nachgang Notizen gemacht, um wichtige Beobachtungen/ Eindrücke zu dokumentieren. Die Transkripte werden mithilfe der thematischen Inhaltsanalyse ausgewertet, um zentrale Themen und Muster zu identifizieren. Die Analyse erfolgt in mehreren Schritten:
Die Ergebnisse werden in einem Bericht zusammengefasst, der die Hauptthemen und Erkenntnisse der Studie im Hinblick auf die Forschungsfrage darstellt.
Oetke, Dirk und Stange, Waldemar (2008): „Gruppendiskussion“. Methoden der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Die operative Dimension der Partizipation I. Beteiligungsbausteine – Band 7; Hrsg. Waldemar Stange; Münster
Auf die Frage welche Partizipationsmöglichkeiten die Jugendlichen haben und nutzen, berichten sie von einem jährlichen Zusammentreffen, bei welchem sie Ideen für Projekte entwickeln können und gemeinsam entscheiden welche davon umgesetzt werden:
„Und sonst halt hauptsächlich wirklich durch das Jugendforum, was hier jedes Jahr gehalten wird. Da gibt es dann sozusagen die Möglichkeit, dass Jugendliche Projektanträge stellen und dieselben Jugendlichen dann auch darüber abstimmen können, welche Projektanträge befürwortet werden und welche finanziert werden.“
Die befragten Jugendlichen beschreiben, dass es für sie ausschlaggebend ist, dass eine angenehme Atmosphäre in den Einrichtungen gibt, in denen sie ihre Beteiligungsmöglichkeiten wahrnehmen. Sies gebe ihnen Raum zur Selbstbestimmung und helfe ihnen dabei, ihre Ideen zu teilen und Position zu beziehen. Eine Teilnehmerin berichtet aus einer ihr bekonnten Einrichtung zum Beispiel:
„Hier sind erstmal die Leute, die man gern hat. Man ist mit Leuten, mit denen man sich in einem Raum wohlfühlt. Man kann hier seine Meinung frei äußern, ohne dass man verurteilt wird. […] Man kann halt selbst bestimmt was man macht. Wenn wir machen, worauf man Lust hat, wenn ich auf nichts Lust habe, dann liege ich halt ein paar Stunden in der Ecke und will einfach nicht mehr. Wenn ich Bock habe mich zu beteiligen, dann setze ich mich hier hin und quatsche mit euch darüber. So ist das.“
Während der Gruppendiskussion fällt auf, dass die Jugendlichen Thematiken und Fragen mit ihren Erfahrungen in der Schule verknüpfen. Die Teilnehmenden berichten teilweise von ihren Versuchen Schule mitzugestalten und von ihren Erfahrungen, dabei aktiv ausgebremst worden zu sein. Im Verlauf der Gruppendiskussion zeigt sich deutlich, wie sich diese gescheiterten Versuche von Beteiligung negativ auf die allgemeine Haltung zu dem Thema auswirken:
„Man sieht halt auch keinen Sinn mehr darin, mit was zu machen. Warum sollte ich was ändern, was seit mehreren Jahren stumpf das gleiche ist? […] Ich muss meine Energie nirgendwo reinstecken, wo ich weiß, dass ich nichts bei rum kommt. Also lohnt sich nicht.“
Die Teilnehmenden kritisieren auch das Schulsystem: Sie stellen die Nützlichkeit des generalisierten Stundenplans in Frage und äußern ihren Unmut darüber, dass sie keine aktive Möglichkeit der Einflussnahme über etwas haben, mit dem sie so viel Zeit am Tag verbringen.
Und auch auf die Frage, was die Jugendlichen glauben, was sie bräuchten, um sich kommunalpolitisch zu beteiligen, verknüpfen sie die Frage mit Themen in der Schule. Sie beschreiben, dass sie sich Lehrkräfte wünschen, welche ihnen mit mehr Verständnis gegenübertreten und Veränderungsmotivation zeigen. Auf die Frage, ob dies für sie bedeute, dass sie auf kommunalpolitischer Ebene das Gefühl haben, Unterstützung von Erwachsenen zu benötigen, beschreiben sie das Gefühl dass sie alleine nichts verändern könnten:
„Ja, genau, weil ich alleine nichts bewirken kann – mäßig.“
In Wittstock gibt es eine Jugendbeauftragte. Diese Person stellt eine Schnittstelle zwischen Kommune und der Anliegen der Jugendlichen dar. Die Jugendlichen nehmen die Jugendbeauftragte der Stadt als eine wichtige Möglichkeit wahr, auf kommunaler Ebene mitzubestimmen.
Für die Jugendlichen spielt die Erreichbarkeit von Orten, an denen sie sich beteiligen können, eine entscheidende Rolle. Sie berichten vom ÖPNV und wie dieser ihre Entscheidung beeinflusst an Orten der Teilhabe zu sein. Eine Jugendliche berichtet:
„[…] also würde ich auf dem Dorf wohnen […] würde ich mich wahrscheinlich auch einfach dagegen entscheiden, so hierher zu fahren in die Kernstadt, weil das viel zu anstrengend wäre, so den letzten Bus um 18 Uhr zu nehmen, manchmal sogar schon um 17 Uhr.“
Über die Abläufe und Unterstützungsangebote zur Beteiligung berichten die Jugendlichen, dass die Sozialarbeitenden vor Ort wichtige Ansprechpersonen darstellen. Die befragten Personen beschreiben, dass sie sich an ihre Sozialarbeiter*innen wenden würden, wenn sie eine Idee für ihren Ort haben. Darüber hinaus berichten die Jugendlichen, dass sie ihre Sozialarbeiter*innen auch bei Anliegen zur Beteiligung auf kommunaler Ebene ansprechen.
„Also ich gehe auf jeden Fall zu ihnen, wenn ich irgendwas habe. Also wofür ich mich einsetzen will, was ich verändern möchte.“
Auf kommunalpolitischer Ebene ist ebenfalls aus den Aussagen der Jugendlichen herauszuhören, dass sie sich einen Generationswechsel wünschen, da sie ihre Bedürfnisse und Wünsche eher durch jüngere Repräsentantinnen gehört und umgesetzt sehen.
Die Untersuchung zur Wahrnehmung politischer Partizipationsmöglichkeiten von Jugendlichen in ihrer Kommune zeigt, dass ihre Beteiligung stark von den spezifischen Strukturen und Akteur*innen in ihrem direkten Umfeld abhängt. Im Jugendzentrum erfahren die Jugendlichen durch das Jugendforum und die Unterstützung der Jugendbeauftragten eine Form der Partizipation, die sowohl Elemente der Mitbestimmung als auch der Selbstbestimmung umfasst. Diese Erfahrungen stärken ihr Gefühl der Selbstwirksamkeit und ihre Motivation zur Teilnahme. Im Gegensatz dazu erleben sie in der Schule überwiegend negative Partizipationserfahrungen, die ihre allgemeine Haltung zur politischen Teilhabe stark beeinflussen.
Misserfolge und fehlende Unterstützung führen zu einer verringerten Bereitschaft, sich aktiv zu engagieren. Die Partizipation der Jugendlichen ist häufig auf ihren sozialen Nahraum beschränkt und erreicht selten die Ebene der politischen Macht, wie sie in theoretischen Modellen beschrieben wird. Dies zeigt sich insbesondere in der Wahrnehmung von Partizipationsmöglichkeiten im Jugendzentrum, die sich auf lokale Projekte beschränken und kaum in breitere politische Entscheidungen eingreifen. Auch äußere Rahmenbedingungen wie eine eingeschränkte Mobilität durch den öffentlichen Personennahverkehr wirken als hindernde Faktoren und begrenzen den Zugang zu Beteiligungsmöglichkeiten.
Erwachsene Bündnispartner*innen, insbesondere die Jugendbeauftragte und die Sozialarbeiter*innen im Jugendzentrum, spielen eine zentrale Rolle bei der Förderung der Partizipation der Jugendlichen. Die Jugendlichen nehmen diese Akteur*innen als Brücken zwischen ihren Anliegen und der kommunalpolitischen Ebene wahr. Gleichzeitig äußern sie jedoch den Wunsch nach mehr unterstützenden Lehr*innen in der Schule und auf kommunalpolitischer Ebene, was auf ein implizites Bedürfnis nach einer Veränderung der Machtverhältnisse hindeuten kann. Der Erfolg von Partizipationsprozessen hängt dadurch stark von der Bereitschaft der Erwachsenen ab, Macht zu teilen und die Jugendlichen inechte Entscheidungsprozesse einzubinden.
Die Untersuchung verdeutlicht, dass für eine nachhaltige Förderung politischer Partizipation von Jugendlichen strukturelle Veränderungen notwendig sind. Dies betrifft sowohl die Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten in Schulen als auch die Ausweitung derAngebote im Jugendzentrum auf kommunalpolitische Themen. Insbesondere sollten Wege gefunden werden, um Jugendliche in größere politische Zusammenhänge einzubinden und ihnen realen Einfluss auf gesellschaftliche Entscheidungen zu ermöglichen. Dies könnte durch die Integration von Jugendlichen in kommunale Entscheidungsprozesse und die Schaffung neuer Beteiligungsformate geschehen, die über den sozialen Nahraum hinausgehen.
Weiterhin sollte die Mobilität von Jugendlichen verbessert werden, um ihnen den Zugang zu Partizipationsmöglichkeiten zu erleichtern und eine verstärkte Sensibilisierung von Erwachsenen für die Bedürfnisse und Perspektiven junger Menschen stattfinden, um eine tiefgreifende Reflexion über Machtverhältnisse und die Bereitschaft zur Machtabgabe zufördern. Langfristig sollten auch neue Ansätze zur politischen Bildung entwickelt werden, die über die Schule hinausgehen und Jugendlichen die Bedeutung ihrer Beteiligung für die Gesellschaftverdeutlichen. Hierbei könnten informelle Bildungsangebote und die Zusammenarbeit mit Organisationen eine zentrale Rolle spielen.
Die Erkenntnisse dieser Untersuchung können als Grundlage für weitere Forschung dienen, die sich mit der Frage beschäftigt, wie Partizipationsbarrieren abgebaut und die politische Teilhabe von Jugendlichen auf kommunaler Ebene und darüber hinaus gestärkt werden kann.